1. gedenktag-2008

9. November 2008: Gedenktag zur Erinnerung an die „Reichspogromnacht“ 1938

Die Feier zum Gedenktag 2008 wurde vom EMA unter Federführung von Dr. Friedemann Neuhaus im Schloss Osnabrück ausgerichtet.
Seinen Text „10 Fragen zur Reichspogromnacht 1938“ finden Sie weiter unten.

Unter Anleitung von Thomas Johannsmeier erstellten Schülerinnen und Schüler Collagen nach dem Lied „Kristallnaach“ von BAP, geschrieben und komponiert von Wolfgang Niedecken. der sich auch mit einem Grußwort an das EMA gewandt hat..
Diese Collagen stellen wir hier vor, ergänzt um den Originaltext im kölnischschen Platt sowie um eine autorisierte Übertragung ins Hochdeutsche.

Und alle diese Collagen hat Jakob Bartnik in einem Videofilm zusammengesetzt, das Lied von BAP als Tonspur unterlegt.

„Ess täglich Kristallnaach“ heißt das Theaterstück, das am 9. November im Schloss aufgeführt wird, angekündigt durch den damaligen Osnabrücker Oberbürgermeister Boris Pistorius.
Am 27. Januar 2009, dem Gedenktag zur Erinnerung an die Befreiung des Konzentratrionslagers Auschwitz, setzte sich um 14 Uhr unter dem Motto „Arsch huh, Zäng ussenand“ („Arsch hoch, Zähne auseinander“) ein Zug von einigen Hundert Leuten vom EMA zum Standort der am 9. November 1938 niedergebrannten Synagoge in Bewegung, wo der Kaddish, das Totengebet für die Ermordeten gesprochen wurde.

Zuerst aber kommt hier ein

Grußwort von Wolfgang Niedecken

„Dann ist täglich Kristallnacht“. Diese Verszeile aus unserem Song „Kristallnaach“ hat auch rund 26 Jahre nach seinem Erscheinen nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Deshalb begrüße ich es, dass in Osnabrück der Gedenktag zur Reichspogromnacht jedes Jahr durch eine andere Schule ausgerichtet wird. Denn jede Generation muss sich auf ihre Art nicht nur mit der deutschen Geschichte auseinandersetzen, sondern auch eigene Kriterien für den Umgang mit anderen Menschen entwickeln. Heute wird man in Deutschland nicht mehr, wie zur Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, für abweichendes Verhalten, eine andere politische Gesinnung oder religiöse Überzeugung bestraft. Umso wichtiger ist es, dass alle den „Arsch huh und die Zäng ussenander“ kriegen, wenn Menschen diskriminiert und ausgegrenzt werden. Um das in Erinnerung zu rufen, dazu dienen solche Gedenktage wie der 9. November. Dafür wünsche ich dem Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium und der Trägergemeinschaft 9. November gutes Gelingen.

Wolfgang Niedecken (November 2008)

Collagen der Kunst-AG

Strophe 1Strophe 2Strophe 3Strophe 4Strophe 5Strophe 6

Strophe 1:

Collage zu „Kristallnaach“, Strophe 1 (Bild: EMA)

Originaltext („Kristallnaach“):

Et kütt vüür, dat ich mein, dat jet klirrt,
dat sich irjendjet en mich verirrt,
e Jeräusch, nit ens laut,
manchmol klirrt et vertraut,
selden su, dat mer et direk durchschaut.
Mer weed wach, rief die Aure un sieht
en nem Bild zweschen Brueghel un Bosch
kei Minsch, dä öm Sirene jet jitt,
weil Entwarnung nur half su vill koss.
Et rüsch noh Kristallnaach.

Übertragung („Kristallnacht“):

Es kommt vor, dass ich meine: etwas klirrt,
Dass sich irgendwas in mich verirrt.
Ein Geräusch, nicht mal laut,
Manchmal klirrt es vertraut,
Selten so, dass man es sofort durchschaut.
Man wird wach, reibt sich die Augen und sieht
In einem Bild zwischen Brueghel und Bosch
Keinen, der auf Sirenen was gibt,
Weil Entwarnung viel billiger ist.
Es riecht nach Kristallnacht.

Strophe 2:
Collage zu „Kristallnaach“, Strophe 2 (Bild: EMA)

 

Originaltext:

En der Ruhe vüür`m Sturm, wat ess dat?
Janz klammheimlich verlööß wer die Stadt,
Honratioren incognito hasten vorbei.
Offiziell sinn die nit jähn dobei.
Wenn die Volksseele, allzeit bereit,
Richtung Siedepunkt wütet un schreit,
„Heil Halali“ un grenzenlos geil
noh Vergeltung brüllt, zitternd vor Neid,
en der Kristallnaach.

Übertragung:

In der Ruhe vorm Sturm, was ist das?
Ganz klammheimlich verlässt wer die Stadt.
Honoratioren inkognito hasten vorbei
Offiziell sind die nicht gerne dabei,
Wenn die Volksseele, allzeit bereit,
Richtung Siedepunkt wütet und schreit:
„Heil Halali“ und grenzenlos geil
‚Nach Vergeltung brüllt, zitternd vor Neid
In der Kristallnacht.

Strophe 3:
Collage zu „Kristallnaach“, Strophe 3 (Bild: EMA)

 

Originaltext:

Doch die alles wat anders ess stührt,
die mem Strom schwemme, wie’t sich jehührt,
für die Schwule Verbrecher sinn,
Ausländer Aussatz sinn,
bruchen wer, der se verführt.
Un dann rettet kein Kavallerie,
keine Zorro kümmert sich dodrömm.
Dä piss höchstens e „Zet“ en der Schnie
un fällt lallend vüür Lässigkeit öm:
„Na un? – Kristallnaach!“

Übertragung:

Doch die alles, was anders ist, stört,
Die mit dem Strom schwimmen, wie sich’s gehört,
Für die Schwule Verbrecher sind,
Ausländer Aussatz,

Sie brauchen wen, der sie verführt.
Und dann rettet keine Kavallerie,
Kein Zorro kümmert sich darum.
Der pisst höchstens ein „Z“ in den Schnee
und fällt lallend vor Lässigkeit um:
„Na und? Kristallnacht!“

 

Strophe 4:
Collage zu „Kristallnaach“, Strophe 4 (Bild: EMA)

 

Originaltext:

En der Kirch met dä Franz Kafka Uhr,
ohne Zeijer, met Striche drop nur,
ließ ne Blinde ‘nem Taube Struvvelpeter vüür,
hinger dreifach verriejelter Düür.
Un dä Wächter mem Schlüsselbund hällt
sich em Ähnz für jet wie e Jenie,
weil’e Ausweje pulverisiert
un verkäuf jäjen Klaustrophobie,
en der Kristallnaach.

Übertragung:

In der Kirche mit der Franz-Kafka-Uhr,
Ohne Zeiger, mit Strichen nur,
Liest ein Blinder einem Tauben Struwwelpeter vor
Hinter dreifach verriegelter Tür.
Und der Wächter mit dem Schlüsselbund hält
Sich im Ernst für so was wie ein Genie,
Weil er Auswege pulverisiert
Und verkauft gegen Klaustrophobie
In der Kristallnacht.

Strophe 5:
Collage zu „Kristallnaach“, Strophe 5 (Bild: EMA)

 

Originaltext:

Währendessen, om Maatplatz vielleich,
unmaskiert, hück mem wohre Jeseech,
sammelt Stein, schlief et Mezz
op die, die schon verpezz,
prob dä Lynch Mob für et jüngste Jereech.
Un zum laade nur flüchtig vertäut,
die Galeeren stonn längs unger Dampf,
weet em Hafen op Sklaven jewaat,
op dä Schrott uss dämm ungleiche Kampf
uss der Kristallnaach.

Übertragung:

Währenddessen, auf dem Marktplatz vielleicht,
Unmaskiert, heute mit wahrem Gesicht,
Sammelt Steine, schleift das Messer,
Auf die, die schon verpetzt,
Probt der Lynch-Mob fürs jüngste Gericht.
Und zum Laden nur flüchtig vertäut,
Die Galeeren stehen längst unter Dampf,
Wird im Hafen auf Sklaven gewartet,
Auf den Schrott aus dem ungleichen Kampf
Aus der Kristallnacht.

 

Strophe 6:
Collage zu „Kristallnaach“, Strophe 6 (Bild: EMA)

 

Originaltext:

Do, wo Darwin für alles herhällt,
ob mer Minsche verdriev oder quält,
do, wo hinger Macht Jeld ess,
wo stark sinn die Welt ess,
vun Kusche un Strammstonn entstellt,
wo mer Hymnen om Kamm sujar blööß,
en barbarischer Gier noh Profit
„Hosianna“ un „Kreuzigt ihn“ rööf,
wemmer irjendne Vorteil drin sieht,
ess täglich Kristallnaach.

Übertragung:

Da, wo Darwin für alles herhält,
Ob man Menschen vertreibt oder quält
Da, wo hinter Macht Geld ist,
Wo Starksein die Welt ist,
Von Kuschen und Strammstehen entstellt,
Wo man Hymnen auf dem Kamm sogar bläst,
In barbarischer Gier nach Profit
„Hosianna“ und „Kreuzigt ihn“ ruft,
Wenn man nur einen Vorteil drin sieht,
Ist täglich Kristallnacht.

 

Videofilm „Kristallnaach“ – Collagen: Kunst-AG; Produktion: J. Bartnik
 
Theaterstück „Ess täglich Kristallnaach““ (2 Bilder)
Theaterstück „Ess täglich Kristallnaach“, 9. November 2008 (Foto: EMA)

 

Theaterstück „Ess täglich Kristallnaach“, 9. November 2008 (Foto: EMA)
10 Fragen zur Reichspogromnacht 1938

1. Was ist ein Pogrom?
2. Was geschah in der Reichspogromnacht?
3. Warum erhielt dieser Tag den Namen „Kristallnacht“?
4. Warum wurden die Juden diskriminiert, entrechtet und verfolgt?
5. Was ist ein Jude?
6. Was bedeutet Arisierung?
7. Warum sind nicht alle Juden vorher ausgewandert?
8. Was geschah in Osnabrück in der „Reichskristallnacht“?
9. Gab es noch andere Opfergruppen?
10. Was hat es mit dem Lied „Kristallnaach“ von BAP auf sich?

 

1. Was ist ein Pogrom?
Das Wort Pogrom leitet sich von dem russischen Wort für „Verwüstung“ ab. Damit wurden im zaristischen Russland die Ausschreitungen gegen Juden bezeichnet. Heute hat sich der Begriff als Bezeichnung für gewaltsame Ausschreitungen gegen Minderheiten im Allgemeinen durchgesetzt.

2. Was geschah in der Reichspogromnacht?
Der Pogrom vom November 1938 leitete eine neue Phase in der nationalsozialistischen Judenpolitik ein. Bisher waren Juden „nur“ ausgegrenzt und diskriminiert worden, nun wurden sie systematisch aus Deutschland vertrieben bzw. in Konzentrationslager verschleppt und getötet. Das NS-Regime hatte seit längerem geplant, die Juden systematisch aus dem Wirtschaftsleben auszuschalten. Am 7. November 1938 lieferte ihm der polnische Jude Herschel Grynszpan den Vorwand dazu, als er in Paris den deutschen Gesandtschaftsrat Ernst vom Rath lebensgefährlich verletzte. Am Abend des 9. November erlag vom Rath seinen Verletzungen. Daraufhin inszenierte die NS-Führung eine „spontane Volkserhebung“ gegen die Juden, bei der über 1000 Synagogen zerstört oder demoliert wurden. Auch 7500 jüdische Geschäfte wurden zerstört. Feuerwehr und Polizei hatten Anweisung nicht einzuschreiten bzw. nur benachbarte Gebäude zu schützen. Die Zahl der Todesopfer durch Mord, als Folge von Misshandlungen, Schrecken und Verzweiflung betrug mehrere Hunderte, Selbstmorde nicht mitgerechnet. Die fälligen Versicherungsleistungen wurden vom Reich einbehalten, zusätzlich mussten die Juden eine „Sühneleistung“ erbringen und bei Auswanderung eine „Reichsfluchtsteuer“ zahlen. 26.000 jüdische Männer wurden in die Konzentrationslager Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald verschleppt. Die Freilassung dieser „Aktionsjuden“ erfolgte erst, wenn die Angehörigen eine Auswanderungsmöglichkeit nachweisen konnten oder wenn die Vermögenswerte überschrieben waren.

3. Warum erhielt dieser Tag den Namen „Kristallnacht“?
Die Herkunft des Namens ist ungeklärt. Wegen der vielen zu Bruch gegangenen Fensterscheiben von Synagogen sowie von Geschäfts- und Wohnhäusern bürgerte sich der beschönigende Begriff „Kristallnacht“ ein.

4. Warum wurden die Juden diskriminiert, entrechtet und verfolgt?
Eine rational nachvollziehbare Erklärung gibt es dafür nicht. Der Anteil der Juden in Deutschland betrug 1933 weniger als 1 % der Gesamtbevölkerung. Eine Gefahr für Deutschland stellten die Juden also nicht dar. Im Gegenteil, die deutschen Juden waren weitgehend assimiliert, fühlten sich als Deutsche und konnten auch eine große Zahl von Soldaten anführen, die im 1. Weltkrieg ihr Leben für Deutschland gelassen hatten.
Dennoch war der Antisemitismus in Deutschland seit Jahrhunderten tief verwurzelt. Die Juden waren stets eine Minderheit gewesen, die bei Christen auf Ablehnung und Feindschaft gestoßen war. Die Christen beschuldigten die Juden z.B. als Christusmörder. Im Mittelalter durften die Juden kein ordentliches Handwerk ausüben, weil sie von den Handwerkervereinigungen, den Zünften, ausgeschlossen waren. Auch durften sie keinen Grund und Boden erwerben. So waren sie von den meisten Berufen ausgeschlossen. Ihnen blieb nur der Handel mit Vieh und anderen Dingen. Da den Christen das Verleihen von Geld verboten war, übernahmen die Juden diese Aufgabe. Geldverleiher waren wichtig für Kaufleute, Adlige und Fürsten. Aber sie waren nicht beliebt. Geldverleiher galten als Wucherer, die mit der Not anderer ihr Geld verdienten.
Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die Beschränkungen für Juden in Deutschland weitgehend aufgehoben. Die Juden durften nun Land erwerben, ein Handwerk ausüben und studieren. Viele von ihnen ergriffen diese Gelegenheit und waren deshalb sehr stark in Berufen vertreten, die sozial hoch angesehen waren wie Rechtsanwälte, Ärzte, Bankiers, Händler, Schriftsteller und Künstler. Das weckte den Neid vieler Nicht-Juden. Sie behaupteten, die Juden seien Schmarotzer auf Kosten des gemeinen Volkes. Die anfangs religiös begründete Judenfeindschaft wurde in dieser Zeit um rassistische und wirtschaftliche Gründe erweitert. Dieser rassistische Antisemitismus wurde Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie. Die Juden galten als fremde und minderwertige Rasse. Am 30. Januar 1939 verkündete Adolf Hitler, wenn es „dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen“, dann werde das „die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ zur Folge haben. Mit dieser Drohung bediente Hitler nicht nur die antisemitischen Vorurteile von den geldgierigen Juden, sondern lieferte mit einer angeblichen jüdischen Weltverschwörungstheorie auch einen Sündenbock für den von ihm selbst angestrebten und angezettelten Zweiten Weltkrieg.

5. Was ist ein Jude?
Im Jahr 1998 stellte die Wochenzeitung „Die Woche“ diese Frage verschiedenen prominenten Juden bzw. Würdenträgern aus Israel, z.B. Steven Spielberg, Ralph Giordano, Giora Feidman und dem damaligen israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu. Die Antworten fielen sehr unterschiedlich und zum Teil gegensätzlich aus. Nach dem jüdischen Religionsgesetz ist der ein Jude, der von einer jüdischen Mutter abstammt oder jemand, der nach einer Prüfung durch ein Rabbinatsgericht zum Judentum übergetreten ist. Judentum ist demnach mehr als eine Religion oder eine Konfession, sondern versteht sich auch als ein Volk, das während der 2000 Jahre der Zerstreuung immer an seinem Judentum festgehalten hat. Es gibt somit auch eine große Anzahl von Juden, die nicht religiös sind und sich dennoch zum Judentum bekennen, zu seiner Geschichte, zu seiner Tradition und Kultur. Theodor Herzl (1860-1904), der Begründer des Zionismus, sagte, die Juden seien ein deshalb ein Volk, weil die anderen Nationen sie durch ihren Antisemitismus dazu gemacht hätten. Und der Schriftsteller Ralph Giordano erläutert, was ein Jude sei, das wüssten nur die Antisemiten: „Für sie sind alle Juden gleich.“ Den nationalsozialistischen Bestimmungen zufolge galt derjenige als „nichtarisch“, der ein jüdisches Elternteil oder Großelternteil hatte. Das galt auch für getaufte Juden, die sich selbst nicht zum Judentum rechneten.

6. Was bedeutet „Arisierung“?
„Arisierung“ ist ein nationalsozialistischer Begriff, mit dem die Übereignung jüdischen Eigentums auf „Arier“ bezeichnet wird. Im Kern zielte die Arisierung darauf, die Juden systematisch aus dem deutschen Wirtschaftsleben zu verdrängen. Die Arisierung erfolgte zum Teil unmittelbar als Enteignung, beispielsweise wenn der jüdische Besitzer eines Wohnhauses oder Ladens deportiert worden war. Zum Teil war damit aber auch der unter wirtschaftlichem Druck (z.B. Boykott, Behinderung der wirtschaftlichen Tätigkeit, Berufsverbot) erzwungene Verkauf eines Unternehmens oder Betriebs gemeint. Zunächst sollte die Arisierung die Juden zur Auswanderung veranlassen, was allerdings aufgrund der restriktiven Bestimmungen, die die Ausfuhr von Geld und Devisen betrafen, nahezu unmöglich war. Nach der Reichspogromnacht wurde die Arisierung mit entschädigungsloser Zwangsenteignung mit dem Ziel einer vollständigen „Entjudung“ des deutschen Reiches radikalisiert.
Nutznießer der Arisierung waren nicht nur Banken und Unternehmen, sondern auch gewöhnliche „arische“ Nachbarn. Der Historiker Götz Aly nennt den „Raubmord an den europäischen Juden“ ein „Verbrechen zum Wohle des Volkes“.

7. Warum sind nicht alle Juden vorher ausgewandert?
Diese Frage verkennt die Situation der Juden in Deutschland. Die deutschen Juden waren zum großen Teil assimiliert, sie konnten sich, ebenso wenig wie die meisten Nichtjuden, kaum vorstellen, dass das NS-Regime tatsächlich die vollständige Vertreibung und Auslöschung des Judentums in Europa zum Ziel haben könnte. Viele Juden hatten im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft und zum Teil ihr Leben gelassen. Die Juden fühlten sich als Deutsche, 80% von ihnen besaßen auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Warum hätten sie ihre Heimat verlassen sollen? Ferner war die Emigration in aller Regel mit dem Verlust der Vermögenswerte und des beruflichen Standes verbunden. Die potentiellen Aufnahmeländer waren aber nicht daran interessiert, Menschen aufzunehmen, die keinen Besitz vorweisen konnten. Selbst Palästina stand den Juden nicht uneingeschränkt offen, da die britische Mandatsmacht die Zahl der jüdischen Einwanderer beschränken musste, um das ohnehin schon konfliktreiche Verhältnis zwischen Juden und Arabern nicht noch weiter anzuheizen. Die Welt zeigte sich gegenüber dem jüdischen Schicksal in Deutschland hilflos bzw. gleichgültig.

8. Was geschah in Osnabrück in der „Reichskristallnacht“?
In Osnabrück lebten im Jahr 1933 435 Juden, das waren 0,45 % der Gesamtbevölkerung. Die Juden hatten in der Rolandstraße (heute: Alte Synagogenstraße) eine repräsentative Synagoge mit einer eigenen Volksschule. In der Reichspogromnacht wurden auch die Osnabrücker Synagoge sowie zahlreiche Geschäftshäuser und Wohnungen von Juden zerstört. Auch der jüdische Friedhof wurde geschändet. Der Historiker Gerd Steinwascher schreibt: „Die Reichspogromnacht war in Osnabrück eine Aktion der SA, der örtlichen Parteigrößen […] der Gestapo, aber auch eines Teils der Bevölkerung, der seinen Hass endlich ohne Einschränkungen ausleben durfte.“ (Geschichte der Stadt Osnabrück, S. 728). Über 80 jüdische Männer wurden in Konzentrationslager verschleppt.

9. Gab es noch andere Opfergruppen?
Zu den Opfern des nationalsozialistischen Regimes gehörten auch Sinti und Roma, Homosexuelle, geistig und körperlich behinderte Menschen, die Zeugen Jehovas („ernste Bibelforscher“), „Asoziale“ und zahlreiche politische bzw. kirchliche Kritiker des Regimes.

10. Was hat es mit dem Lied „Kristallnaach“ von BAP auf sich?
Die Kölner Rockgruppe BAP um Bandgründer und Sänger Wolfgang Niedecken war die erfolgreichste deutsche Rockgruppe der 80er Jahre. In den Jahren 1981 und 1982 feierten sie große Erfolge mit ihren beiden Alben „für usszeschnigge“ (mit „Verdamp lang her“) und „vun drinnen noh drusse“. Dieses Album verdrängte das Vorgänger-Album sogar von Platz 1 der Langspielcharts. Zu diesem Erfolg trug nicht zuletzt der Song „Kristallnaach“ bei. In diesem 1981 in Griechenland entstandenen Song beschreibt Niedecken in einer bildreichen und nicht nur wegen der Kölner Mundart schwer zugänglichen Sprache die bedrohliche Situation, wenn sich der Zorn aufgepeitscher Massen gegen Minderheiten wie Schwule oder Ausländer wendet. Während die Volksseele „Richtung Siedepunkt wütet“, hasten die „Honoratioren inkognito“ vorbei, weil sie sich nicht die Hände schmutzig machen bzw. nicht gesehen werden wollen. Beängstigende, kafkaeske Metaphern von einem Wächter, der „Auswege pulverisiert“ und „gegen Klaustrophobie“ verkauft, wechseln mit eindrücklichen Beschreibungen des Mobs, der Steine sammelnd und Messer wetzend zur Lynchjustiz schreitet. Beängstigend – und damit auch in Analogie zur realen „Kristallnacht“ – ist die Tatsache, dass niemand zur Hilfe kommt: „Kein Zorro kümmert sich darum“. Hinter allem wird die Gier nach Profit vermutet, in einer Welt, in der nur der Stärkere überlebt, die „von Kuschen und Strammstehen entstellt“ ist, in einer Welt also, in der täglich Kristallnacht ist.
Es handelt sich bei „Kristallnaach“ in erster Linie nicht um ein Lied über ein Ereignis der deutschen Geschichte, sondern um eine Auseinandersetzung mit der „Spießerideologie“ (Niedecken), die das, was anders ist, nicht zu akzeptieren bereit ist und sich bei entsprechender Manipulation leicht gewaltsam entladen kann. In keinem einem anderen Song erreicht Niedecken eine derart intensive und bildreiche Ausdruckskraft wie in „Kristallnaach“. Auf dem Jubiläumsalbum „Dreimal zehn Jahre“ ist das Lied zusammen mit dem deutsch-iranischen Sänger Laith Al-Deen noch einmal neu eingespielt worden. Für unser Kunstprojekt zum 9. November hat Wolfgang Niedecken uns die Abspielrechte an dem Lied dankenswerterweise überlassen und zudem versprochen, uns ein Grußwort zu schicken.
Danke, Wolfgang Niedecken!

 

EMA-Schüler kriegen den „Arsch huh und die Zäng ussenander“
Gedenkfeier zum 64. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz

Am 27.01.2009 um 14.00 Uhr erinnern im Forum des Schulzentrums Sonnenhügel die EMA-Schüler in einer Gedenkfeier mit einer Neuauflage von „Ess täglich Kristallnaach“ an die Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee vor 64 Jahren.
Die Theater-AG unter der Leitung von Maja Bitterer und Matthias Rouwen wird die Gedenkfeier am 27.01.2009 gestalten. So haben auch all diejenigen Gelegenheit, die von der Theater-AG selbst geschriebenen Szenen zu sehen, die an der Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht im November 2008 nicht teilnehmen konnten.
„Ess täglich Kristallnaach“, so das Thema der Gedenkfeier in Anlehnung an den berühmten BAP-Song „Kristallnaach“. Zu jeder Strophe dieses Liedes hat die Kunst-AG unter der Leitung von Thomas Johannsmeier Collagen erstellt, die dann unter Mitwirkung des Künstlers Jakob Bartnik zu einem Video-Clip weiter verarbeitet worden sind. Der Clip endet mit dem einem weiteren BAP-Song entnommenen Appell „Arsch huh, Zäng (=Zähne) ussenander“.
Bereits im November 2008 erinnerte das EMA mit vier zentralen Veranstaltungen an Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung der Osnabrücker Juden während des Dritten Reich. Das Gymnasium übernahm u.a. die Patenschaft für einen Stolperstein des den in Auschwitz ermordeten vierjährigen Freerk Engers.
Darüber hinaus besuchte Erna de Vries im November 2008 das EMA für ein Zeitzeugengespräch mit Schülern. Sie überlebte als junge Frau die Gräuel des Vernichtungslagers Auschwitz nur knapp.
Die Gedenkfeier ist öffentlich. Pressevertreter sind willkommen.

Sebastian Lücking

Gedenkfeier zum 64. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, 27. Januar 2009 (Foto: EMA)

 

Gedenkfeier zum 64. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, 27. Januar 2009 (Foto: EMA)

 

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