1. Abiturjahrgang 1986

Abiturjahrgang 1986

Torsten Aderhold, Andrea Alwes, Iris Auding, Caterina van Beers, Jörg Bock, Hartmut Böhm, Thomas Broy, Thomas Blich, Johanna Büscher, Klaus-Dieter Bußmann, Andrea Doll, Vera Doll, Jürgen Dreier, Tobias Dusche, Irene Eberle, Iris Feith, Bengt Föbker, Roland Gebauer, Christina Gern, Corinna Gersmeyer, Kathrin Harcke, Claudia Heetmeyer, Thorsten Heetmeyer, Ute Hellwig, Sabine Herzog, Matthew Jonathan Jones, Heidi Kiefer, Lilli Klein, Ulrike Klöppel, Silke König, Till Koerner, Jens Koopmann, Robert Krippahl, Frank Leenheer, Thorsten Lehmkuhl, Oliver Lenz, Marion Lichtenberg, Anke Lubenow, Jörg Mühlbrodt, Sabine Müller, Martin Müllmann, Karen Nüßmeier, Dagrnar Nützmann, Anja Oberdiek, Magdalena Ossege, Jens Osterodt, Kerstin Otte-Vinke, Rudolf Karl Otto, Tanja Pott, Andrea Riecken, Britta Riemann, Cornelia Rullmann, Klaus Rybak, Ralf Schönfeldt, Udo Siefker, Achim Siller, Rainer Sparenberg, Stefanie Sparenberg, Cordula Tomberger, Corinna Tomberger, Marc Trennhäuser, Henrik Venebrügge, Helmut Wachowiak, Johannes Wanka, Frank Weber, Marc Oliver Wenk, Claudia Wessling, Dorothea Wiekowski, Peter Winter

aus: “Der Schöngeist”. Offizielle Gedenkschrift des Abiturjahrgangs 1986 Ernst-Moritz-Arndt-Gymn., Osnabrück 1986

 

Die Reden zu Entlassungsfeier:

> Begrüßung: OStD Werner Schmidt
> für die Schule: Josefine Hallmann
> für den Abiturjahrgang: Tobias Dusche – Till Körner – Klaus Rybak – Cordula Tomberger – Corinna Tomberger

> „GESCHAFFT!“ – Erfahrungsbericht aus Realschul-Aufbauklassen

Für den Abiturjahrgang

Liebe Anwesende !

Die Abiturientenrede – sie gehört zum Programm einer richtigen Abiturfeier wie die einleitenden Worte des Direktors und die Verleihung der Abiturzeugnisse. Zum einen, weil die Abiturienten Anlaß der Festlichkeit sind, zum anderen, da diese Rede ihnen endlich Gelegenheit zur Selbstdarstellung bietet und zur Reflexion über die Institution, die ihr bisheriges Leben bestimmt hat – die Schule.

Für die Ex-Schülerinnen und -Schüler ergibt sich hier zum ersten Mal die Möglichkeit, offen und vor Publikum Kritik zu äußern. Endlich kann gesagt werden, was schon lange auf Aussprache drängt: Eine Schule, die mittels Zensuren und Leistungsdruck Menschen zu kritischem Denken erziehen will; Lehrer, deren Idealismus an diesem Widerspruch scheitert; Unterricht, der sich mehr nach dem Lehrplan als nach den Bedürfnissen der Lernenden richtet; Schüler, die nicht aus Neugier dem Unterricht folgen, sondern aus Angst vor schlechten Noten; …

Ja, das muß jetzt alles heraus, und die Lehrer können uns auch nichts mehr anhaben! – Also los!

…natürlich soll niemand beleidigt werden. Wir wollen sachliche Kritik. Alles andere ruft sofort innere Ablehnung bei den Zuhörern hervor und bewirkt deshalb gar nichts. Geben wir uns Mühe, eine Abiturrede zu gestalten, die durch ihre Qualität und ihre Aussage besticht. Die alljährlichen Phrasen von Lebensabschnitt, Reife, Dankbarkeit und und und müssen als solche entlarvt werden. Alle Probleme sollen formuliert und analysiert werden und zwar überzeugend. Das macht Eindruck! …und dann?

Das Publikum wird zufrieden sein. Beifall von allen Seiten, ja, auch die Kritisierten klatschen. Was für eine gelungene Feier! Was haben wir für prächtige Schüler herangezogen. – Besonders die Deutschlehrer werden zufrieden sein.

Aber gerade das wollen wir doch nicht, daß sich alle auf die Schulter klopfen und sich durch uns noch bestätigt fühlen. Wir wollen mit unserer Kritik Nachdenklichkeit hervorrufen, Betroffenheit, wollen Veränderung, Verbesserung.

Und nun sitzen Sie dort unten und klatschen Beifall, zeigen Wohlwollen und Einverständnis, aber wohl nur deswegen, weil wir in Stil und Niveau dem festlichen Anlaß gerecht geworden sind, nicht aufgrund unserer treffenden Darstellung der Probleme, weil wir niemanden persönlich angeklagt oder bloßgestellt haben, weil wir zeigen, daß wir gelernt haben, welche Formen einzuhalten sind. Wir haben uns als gesellschaftsfähige Bürger erwiesen. – Herzlichen Glückwunsch!

Und wer hat den Inhalt der Rede gehört? Unsere Aussage, unsere Kritik? Die Kritik als bewußtseinsbildendes Instrument der Aufklärung, als die Grundform der Auseinandersetzung mit bestehenden Werten, ja, als die Voraussetzung für Vernunft und Denken an sich ? Hat sie niemanden erreicht, bewegt, zum Umdenken veranlaßt? Kann sie es überhaupt? Kritik existiert in der Schule nur als formales Lernziel oder als Beleg für die Mündigkeit der Schüler und für die Aufgeschlossenheit der Schule. Als Weg, bestehende Regeln zu hinterfragen und Verbesserungsmöglichkeiten aufzuzeigen, wird sie jedoch nicht ernstgenommen. -Kritik als sinnentleertes Aushängeschild!

Kritik aber ist die Voraussetzung für Demokratie. Ein Staat, der seine Schüler nur zu oberflächlicher Kritikfähigkeit erzieht, kann sich weder freiheitlich noch demokratisch nennen. Er bringt keine mündigen Bürger hervor, sondern produziert funktionierende Rädchen.

Ist das die Bilanz, die wir aus dreizehn Jahren Schule ziehen müssen? Uns und nachfolgende Generationen das Gegenteil zu beweisen, ist Ihre Aufgabe – als Lehrer, als Eltern – als Menschen.

Tobias Dusche – Till Körner – Klaus Rybak – Cordula Tomberger – Corinna Tomberger


Reflexionen über Schule

Sehr geehrte Herren und Damen,
mitgemeinte Abiturienten und Abiturientinnen!

Als sich kurz vor dem schriftlichen Abitur der damalige Leistungskurs Biologie noch einmal bei mir traf, fragten im Laufe des Abends Schülerinnen und Schüler, ob ich die diesjährige Abiturrede halten würde. Ich lehnte dieses sofort in wohlgesetzten Worten – wir finden ja immer Gründe, wenn wir etwas nicht wollen – ab.
Ein Argument bestand darin, daß ich die Machtverhältnisse, wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen und ich sie im System Schule landauf und landab erfahren, nicht durch eine „schöne! Abiturrede überdecken wollte. Ein Aspekt dieser Machtverhältnisse ist der Bürokratismus. Sie alle, die in einem Beruf stehen oder auch nur einen Antrag an eine Behörde zu stellen haben, wissen, wie machtvoll St. Bürokratius sein kann.
In meinem Beruf erlebe ich das seit einiger Zeit als sehr bedrückend, und in mir verstärkt sich das Gefühl: Formalien sind wichtiger als Inhalte. Die Reaktion der Schülerinnen und Schüler auf meine Ablehnung bestand in Schweigen und irgendwie veränderten Gesichtern. Dies saß wie ein Stachel in meinem Fleische. Im Laufe der Zeit und nach etlichen Gesprächen wurden mir zwei Punkte klar:

1. Schülerinnen und Schüler erleben Schule anders als ich. Für sie ist Schule primär die Wechselbeziehung zwischen Lehrenden und Lernenden. D. h. Schule wird von ihnen einmal im persönlichen Bereich und zum anderen da, wo Schule sich persönlich gestaltet, erfahren.
Sie lernen uns, die Lehrenden, ziemlich gut kennen so wie wir sie auch.
Manchmal bin ich heilfroh, daß die Menschenkenntnis derer, die ich unterrichte, noch nicht so groß ist. An uns, den Lehrenden, erfahren also die jungen Menschen Schule. Wir bieten ihnen Reibungsmöglichkeiten bis hin zum Konflikt, Identifikationsmöglichkeiten oder nicht, können durchaus Vorbildfunktion besitzen oder nicht.

2. Wenn ich in meinem Beruf etwas von meinen Hoffnungen und Vorstellungen über die Gestaltung unseres gemeinsamen und individuellen Lebens auf diesem Planeten an die nachfolgende Generation weitergeben möchte, dann kann ich nicht an einem bestimmten Punkt kneifen, mich als Person entziehen, wenn so wie jetzt hier Öffentlichkeit hergestellt ist.
Anders formuliert: Wir dürfen Meinungen nicht nur im stillen Kämmerlein besitzen, sondern müssen sie auch nach außen vertreten. Dies gilt es insbesondere in unseren jeweiligen beruflichen Systemen zu tun, weil in diesen Systemen Entscheidungen getroffen werden.

Von welcher Meinung spreche ich? Lassen Sie mich dies als Behauptung formulieren:
Auch Schule vermittelt ein falsches Bild von der Wirklichkeit, verstärkt und erzeugt Angst – Schule vermittelt ein falsches Bild von der Wirklichkeit, verstärkt und erzeugt auch Angst.

Im folgenden werde ich z. T. pauschalieren und überzeichnen, damit Aspekte klarer konturiert werden können. Wenn Sie, meine Damen und Herren, wollen, dann lade ich Sie ein, meinen Gedanken zu folgen. Wenn Sie dies nicht wollen, dann bietet Ihnen die Ich-Form, in der ich zu formulieren versuche, die Möglichkeit zu sagen: Das ist allein ihr Problem!

These 1: Gefühle sind nicht gesellschaftsfähig.

Jede und jeder einzelne von uns hier kennt Angst und Situationen, die Angst auslösen. Angst ist ein wichtiger Teil unseres Lebens, unserer Entwicklung als Individuen und – Angst ist ein Gefühl. Über Angst zu sprechen heißt, über Gefühle zu sprechen.
Gefühle, diese merkwürdigen Phänomene, die ich täglich erlebe und von denen ich annehme, daß Sie sie ebenfalls kennen. Aber so genau weiß ich das gar nicht, ob nämlich meine Gefühle, z. B. Freude oder Angst, auch Ihrem Gefühl der Freude oder der Angst entsprechen. Weil wir Worte und Bilder zur Beschreibung unseres Zustandes besitzen, nehmen wir zumindest eine große Übereinstimmung an.
Gefühlen haftet etwas Unsicheres an. Sie gehen und kommen; sind nicht oder nur schlecht „in den Griff zu bekommen“ – zum Glück vielleicht sogar! Möglicherweise ist diese Nicht-Beherrschbarkeit der Grund, warum wir unsere Gefühle so sehr verstecken.

Vielleicht wurde zu Ihnen schon einmal gesagt: „Sie reagieren immer so emotional.“ Mich brachte diese Äußerung sofort zum Verstummen, Sie wahrscheinlich ebenfalls. Nahezu „automatisch“ stellte sich Beschämung ein. Oder: Wie peinlich berührt bin ich, wenn ein Mensch in meiner Gegenwart seinen Gefühlen direkt Ausdruck verleiht.
Oder: Die Angst, die Trauer eines anderen Menschen zu erleben, macht mich hilflos.
Kurz: Irgendwie möchte ich von Gefühlen anderer möglichst verschont bleiben, möchte ihnen nicht ausgeliefert sein, mit ihnen nicht konfrontiert werden; denn dann müßte ich ja in die Auseinandersetzung mit dem anderen Menschen gehen, mir z. B. die Wut auf mich anhören, darauf reagieren… Ich wurde so erzogen, daß meine Gefühle die anderen möglichst nicht stören und will natürlich selbst auch nicht gestört werden. Obwohl die reinigende Wirkung eines Gewitters hinlänglich bekannt sein dürfte.

Lassen Sie mich zur These 1 abschließend folgendes aus einer Fernsehsendung erzählen, die vor 2-3 Jahren zu sehen war:
Ein Kamerateam beobachtete, wie 2 Familien mit Kindern 3 Tage lang in dem gemeinsam gebauten Atombunker den Ernstfall probten – ganz normale Durchschnittsbürgerinnen und -bürger, derältere Mann Lehrer an einer Polizeischule. Seine Frau hatte mährend der ganzen Sendung kaum den Mund aufgemacht, am Schluß, als alle den Bunker wieder verlassen hatten, wurde sie gefragt, was sie empfunden habe. Sie sagte, sie habe immer daran denken müssen, daß sie ja im Ernstfall wahrscheinlich nicht alle beisammen sein würden und daß sie sich dann die grausigsten Gedanken über das Schicksal der Familienmitglieder machen würde, die draußen geblieben seien, und dann hätte sie überhaupt an all die Menschen denken müssen, die da draußen seien, und wie sie es wohl vorfinden würde, wenn sie wieder herauskäme/ und eigentlich würde sie im Ernstfall gar nicht in den Bunker gehen wollen… Ihr Mann, befragt, ob er das auch so empfinde, sagte: „Ich will mich da gar nicht erst so reinsteigern!“ Da sagte sie ganz ruhig: „Ich steigere mich gar nicht in etwas rein. Ich denke nur, was ist.“

An dieser Geschichte wird für mich greifbar, daß wir ohne die Beachtung unserer Gefühle die Wirklichkeit nur verkürzt und somit falsch wahrnehmen und deshalb falsche Folgerungen ziehen. Gleichzeitig erkenne ich, wie wenig Angst als ein Argument angesehen wird.

These 2: Angst gilt in der Schule nicht als Argument bzw. wird als solche nicht erkannt, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Dies ist nicht verwunderlich, weil Schule letztlich nur Haltungen und Meinungen der Gesellschaft spiegelt. These 1: Gefühle und Angst sind nicht gesellschaftsfähig gilt darum ebenso für die Schule. Am Donnerstag dieser Woche stand folgende kurze Notiz in der NOZ:

Bayreuth, 18. Juni (dpa) Fast jedes fünfte Kind in der Bundesrepublik leidet heute unter chronischen Kopfschmerzen. Nach Angaben des Berufsverbandes der Kinderärzte Deutschlands haben Kinderkopfschmerzen in erster Linie psychogene Ursachen. Nicht organisch bedingte Beschwerden treten häufig auf bei einem Aufstau von Aggressionen, bei einem Gefühl des Versagens und bei Angst oder Anspannung vor Ereignissen wie Schularbeiten

Offensichtlich nehmen die Angstsymptome bei Kindern und nach meinen eigenen Beobachtungen auch bei Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe II zu.
An dieser Stelle muss ich eine Differenzierung vornehmen. Sie alle kennen Märchen. In Märchen wird oft von der Angst gesprochen, die eine Frau, ein Mann, ein Mädchen oder ein Junge besitzen, und was sie damit erleben. Denken Sie an die Angst der Müllerstochter in „Rumpelstizchen“ angesichts der drei Zimmer voller Stroh, die ihr der König in drei Nächten zu Gold zu spinnen als Aufgabe stellt.
Solche Ängste bezeichne ich als Lebensängste, zum Leben existentiell dazuge­hörend. Oder denken Sie an die Angst vor dem Tod. Diese Ängste stellen eine Aufgabe in meinem Leben dar. Ich darf sie nicht verniedlichen oder gar nicht beachten. Märchen bieten mir Lösungsmuster an.
Aber da gibt es die anderen Ängste, diejenigen, die in mir verstärkt und pro­duziert wurden und werden in der Absicht, mich klein zu halten, und denen ich oft genug ausweiche, weil ich das nicht so genau missen will; sie bereiten mir Unbehagen.
Solche Ängste nenne ich „gemachte Ängste“, „künstliche Ängste“. Von diesen will ich jetzt sprechen.

Diejenigen von Ihnen, die Eltern sind, erkennen unschwer, daß die Erziehung in der Familie ihr gerüttelt Maß dazu beiträgt, gemachte Ängste zu erzeugen. Als Stichwort mag das Wort „Liebesentzug in der Erziehung eines Kindes“ genügen. Weil ich, weil wir alle mit den gemachten Ängsten leben, geben wir sie auch weiter. Ich z. B. in meiner Position als Lehrerin.
Und so frage ich: Wie verstärke und erzeuge ich in meinem Unterricht Angst? Ob ich dies bewußt oder unbewußt tue, soll kein Aspekt sein. Lassen Sie mich nur sagen, daß meiner Meinung nach die nicht-bewußt erfolgende Angstauslösung besonders problematisch ist und nach meinen Erfahrungen eigentlich nur durch scharfe Eigenbeobachtung und mit Hilfe der Schülerinnen und Schüler in Ansätzen erkennbar gemacht werden kann.

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie sind wieder oder immer noch Schülerin oder Schüler, die Unterrichtsstunde hat begonnen, die Überprüfung der Hausaufgabe ist angesagt. Nach der entsprechend spannungsgeladenen Wartezeit rufe ich Sie auf. Und dann geschieht das, was Sie sehr gut kennen: Ihr gespeichertes Wissen ist wie weggeblasen. Alles, was Sie sagen wollten – fort – tabula rasa. Sie schweigen, suchen krampfhaft in Ihrem Gedächtnis – Nichts! In Abhängigkeit von Ihren Vorerfahrungen und der Bedeutung der Prüfungssituation für Sie kann und kriecht oft genug Angst in Ihnen hoch. Wie Sie diese Angst erleben, welche körperlichen Reaktionen dabei eintreten, muß ich Ihnen nicht schildern. Sie kennen sich da bestens aus.
Und was tue ich? Ich nehme einfach an, „Sie haben nicht gelernt“ und teile Ihnen das auch mit; meist noch versehen mit spitzen Kommentaren. Habe ich doch viele Beweise für die Richtigkeit meiner Unterstellung und hier besonders die tatsächlichen oder vermeintlichen Erinnerungen an meine eigene Schulzeit. Ich projiziere!
Ihrer Versicherung: Ich habe aber gelernt – glaube ich nicht und sage das ebenfalls. Ich werte sie einfach als Schutzbehauptung.
Wie fühlen Sie sich jetzt, Sie, die Schülerin, Sie, der Schüler? — PAUSE — Wenn ich Sie das nächste Mal aufrufen werde, wird die Erinnerung und die Angst zu versagen, wieder gegenwärtig sein. Die Gefahr des black-outs ist erhöht und tritt häufig ein. Sie befinden sich in einem Circulus vitiosus. Und ich? Ich erhalte auf diese Art und Weise sog. „objektive“ Maßstäbe Ihrer Leistung.

Hier ist etwas von Grund auf falsch; denn ich messe nicht Ihr tatsächliches Wissen, sondern nur Ihre Gedächtnislücke, Ihre Denkblockade, benote Ihr Angstpotential.

Welche Folgen besitzen solche Erfahrungen für Ihr Selbstwertgefühl? Die Folgen für Ihre Leistung will ich nicht erwähnen, sie liegen auf der Hand. Werden Sie beim nächsten Mal wieder die Wahrheit sagen: „Ich habe aber doch gelernt?“, und sich der Ironie aussetzen? Oder wenden Sie gleich die berühmte Schere im Kopf an? Welche Folgen ergeben sich für Sie hinsichtlich dessen, was Sie als wichtig in Ihrem Leben ansehen werden? Denn solche Erfahrungen machen Sie stän­dig in Ihrer Schulzeit. Werden Sie so nicht gezwungen, d.h. lernen Sie nicht notgedrungen in einem schmerzhaften Abtrainierungsprozeß, Ihre Gefühle als „schädlich“ für Sie zu betrachten?
Was zählt ist offensichtlich nur das Meßbare, obwohl das gemessene Resultat in keiner Weise die Wirklichkeit widerspiegelt, denn Sie hatten ja wirklich eine Denkblockade. Stattdessen verstärke and erzeuge ich ständig neu in Ihnen eine gemachte Angst. — PAUSE —

Leider muß ich es bei diesem exemplarischen Beispiel bewenden lassen. Sie besitzen jedoch Phantasie genug, sich andere Situationen vorzustellen. Denken Sie z.B. an Ihren Beruf.
Im vergangenen Jahr sagte mein Kollege Robel an diesem Pult stehend: „Sie (die Schülerinnen und Schüler) müssen sich zurechtfinden in einer Gesellschaft, die zunehmend härter wird. Sie wird zu einer ausgeprägten Ellenbogengesellschaft. Die Anfänge sind schon in der Schule erkennbar.“
Und ich glaube, daß das Wort Hannah Arendts von der „Banalität des Bösen“, auf das Herr Robel ebenfalls hinwies, eine seiner Wurzeln in solchen Erfahrungen hat. Als Biologin fällt mir dazu noch das Phänomen des Angstbeißens ein.

Ihnen, den Abiturientinnen und Abiturienten, wünsche ich:
– den Mut, den Sie benötigen, wenn Sie sich Ihre Gefühle und besonders Ihre Ängste anschauen.
– daß Sie in Ihrem Lebensbereich die Gefühle Ihrer Mitmenschen, besonders dann, wenn Sie eine führende Position innehaben, vielleicht sogar Lehrerin oder Lehrer werden, nicht als unwichtig abtun.

Erzeugen Sie keine gemachten Ängste!
Es gibt bereits genug Angst in dieser Welt!

Ich danke Ihnen für Ihre zuhörenden Ohren und – hoffentlich auch – zuhörenden Herzen.

 


Erfahrungsbericht aus Realschul-Aufbauklassen

Das EMA hat im Schuljahr 1981/1982 erstmals Aufbauklassen für ehemalige Realschüler eingerichtet.
Die Realschulabsolventen, die im Schuljahr 1983/84 ans EMA in den 11. Jahrgang gekommen waren, haben 1986 ihre Abituprüfung abgelegt.
In der Abiturzeitung 1986 findet sich ein Erfahrungsbericht, der hier dokumentiert wird:

GESCHAFFT!
Teilweise war eine Ausbildungsstelle im Wunschberuf nicht zu bekommen, oder man konnte sich für keinen Beruf entscheiden und suchte nach Aufschub. Beide Gründe waren, allerdings etwas vereinfacht gesagt, für viele Realschüler der Anlaß, nach dem Realschulabschluß auf das E-M-A-Gymnasium zu wechseln und sich damit die Zukunftaussichten (sic) durch den Erwerb des Abiturs etwas zu verbessern.
Die Noten waren bereits immer verhältnismäßig gut gewesen, oder man hatte versucht, in letzter Minute diese noch aufzubessern, um die Realschule auch wirklich mit dem notwendigen „Erweiterten Realschulabschluß zu verlassen.
Durch den erreichten Abschluß war aber nur die erste Hürde genommen. Der Anfang am Gymnasium wurde uns von den früheren und neuen Lehrern und von den Eltern nicht leicht gemacht. Ständig hörten wir von den im Vergleich zur Realschule gehobenen Anforderungen des Gymnasiums, das besonders von uns ehemaligen Realschülern härteres Arbeiten und erhöhten Einsatz erfordern sollte. Die hohen Erwartungen von Seiten der Lehrer und der Eltern waren es denn auch, die langsam aber sicher in jedem von uns die Angst vor dem Versagen aufsteigen ließen.
Die Einrichtung der sogenannten Realschulklasse erleichterte uns allerdings die Eingewöhnung in die neue Schule erheblich.
Auf der einen Seite war man unter „Seinesgleichen“ und wurde langsam an das gymnasiale Niveau angeglichen. Auf der anderen Seite wurden Fächer wie Religion, Biologie und Chemie zusammen mit den anderen Gymnasiasten unterrichtet, und man hatte so die Gelegenheit, seine Kenntnisse mit denen der anderen zu vergleichen. In den gemeinsamen Kursen, vor allen in den Fächern Biologie und Chemie, stellte sich heraus, daß wir uns durchaus mit den anderen Gymnasiasten messen konnten.
Diese Erfahrung trug einiges zu unserem Selbstbewußtsein bei. Das brauchten wir auch dringend, weil in anderen Fächern wie z.B. Englisch und Französisch erhebliche Lücken aufzuholen waren. Unfreundliche Bemerkungen einiger Lehrer waren nicht selten.
Obwohl sich beim Eintritt in die Kursstufe die ehemaligen Unterschiede mehr und mehr vereinfachten, war man zu Beginn (und besonders in den Leistungskursen) oft den Vorurteilen der Lehrer mehr oder weniger hoffnungslos aus­geliefert.
Trotz der anfänglichen Schwierigkeiten haben fast alle ehemaligen Realschüler dieses Jahrgangs den Abschluß doch geschafft. Dieses Ergebnis ist sicher auch einigen Lehrern zu verdanken, die sich sichtlich darum bemühten, vorhandene Schwächen auszubügeln und jedem, der gut mit­arbeitete, eine Chance einräumten.
Die Einrichtung der Realschulklasse war sicher auch ein wichtiger Faktor, der vielen geholfen hat, das angestrebte Ziel zu erreichen. Leider wird dieses Angebot von anderen Schulen zu oft nicht gemacht.
Ob sich die Zukunftsaussichten mit dem Erwerb des Abiturs viel verbessert haben, sei dahingestellt. Die Arbeitsplatzsituation ist heute selbst für Abiturienten nicht gut.

aus: “Der Schöngeist”. Offizielle Gedenkschrift des Abiturjahrgangs 1986 Ernst-Moritz-Arndt-Gymn., Osnabrück 1986

 

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